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UNCOVER Festivalbüro

Katrin Willert

ist zur Zeit im Fachbereich Virtual Design Dozentin für Kunst- und Kulturgeschichte an der HS Kaiserslautern

Wieviel Design braucht der Mensch?

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Katrin Willert

ist zur Zeit im Fachbereich Virtual Design Dozentin für Kunst- und Kulturgeschichte an der HS Kaiserslautern

Jeder Mensch besitzt 10.000 Dinge

Durchschnittlich soll jeder Europäer 10.000 Dinge besitzen. Darunter befinden sich Dinge, die nützlich und notwendig, luxuriös und statusrelevant, oder einfach nur schön und komfortabel sind. Jeder Gegenstand ist designed: Ob der Löffel, mit dem ich morgens mein Müsli esse, der Stuhl, auf dem ich sitze während ich diesen Text schreibe oder die Lampe, die ich abends zum Lesen einschalte; in meinem Fall übrigens von IKEA, Hay und Artemide.
10.000 ist eine wirklich mächtige Zahl, wie ich finde, und ich frage mich immer, ob derjenige, der diese Statistik aufgestellt hat, auch die Q-Tipps im Badezimmer und die Büroklammern in der Schreibtischschublade hat mitzählen lassen – anders kann ich mir kaum erklären, wie man im Schnitt auf eine solche Anzahl von Gegenständen kommt. Für unsere Urahnen, die noch Jäger und Sammler waren und als Nomaden durchs Land zogen, wäre es undenkbar unpraktisch gewesen so vieles zu besitzen, denn sie hätten ja alles ständig mit sich herumschlep- pen müssen. Wieviele Dinge und wieviel Design braucht der Mensch, um glücklich zu sein?

Die Reduktion der Dinge

Man spricht heute von modernen Nomaden und meint damit Menschen, die zum Beispiel aus beruflichen Gründen häufig umziehen und nirgends so richtig ankommen. Mit meinen über 20 Umzügen aus den unterschiedlichsten Gründen von meiner Kindheit an, zähle ich mich durchaus auch zu dieser Spezies. Zuletzt bin ich vor etwa einem halben Jahr umgezogen. Zwar habe ich die Dinge, die ich besitze, noch nie komplett durchgezählt, aber sicherlich sind es keine 10.000. Mit jedem Umzug versuche ich meinen Besitz zu reduzieren, also auszu- misten, und ich müsste darin mittlerweile echt ein Profi sein, könnte man meinen. Tatsächlich habe ich schon unzählige Artikel und Bücher zu dieser komplexen Thematik gelesen, habe mich schon als Teenager mit Erich Fromms Klassiker „Haben und Sein“ auseinandergesetzt, „Simplify your life“ inhaliert und natürlich auch „Magic Cleaning“ von Marie Kondo gelesen. Letztere fordert zum Beispiel dazu auf, unser Hab und Gut zunächst einmal kategorisch zu ordnen: Kleidung zu Kleidung, Bücher zu Büchern usw. Dann soll man jeden einzelnen Gegenstand in die Hand nehmen, untersuchen, ob er noch funktionstüchtig ist und falls ja, sich dann fragen, ob man ihn noch regelmäßig benutzt. Falls wieder ja, ist alles super, das Ding darf bleiben. Falls nein, weil zum Beispiel kaputt, schlägt Marie Kondo eine sofortige Reparatur vor oder die Sache auszumisten. Eine letzte Chance gibt es in jedem Fall: Wenn man das Gefühl hat, dass ein Ding trotz seines schlechten Zustandes oder seiner offensichtlichen Nutzlosigkeit dennoch glücklich macht, so darf es bleiben.
Trotz regelmäßigen Ausmistens habe ich immer noch das Gefühl, zu viel zu besitzen. Besitz kann auch Ballast bedeuten, und das im wahrsten Sinne des Wortes, wenn ich mal wieder ein paar Kisten Kataloge und Bücher von der alten in die neue Bleibe trage. Von Büchern kann ich mich auch sehr schlecht trennen, muss ich zugeben, meine machen mich eigentlich alle glücklich, wirklich!
Und auch ansonsten umgebe ich mich gerne mit schönen und ästhetischen Dingen, ich mag reduzierte Formen und achte auf Funktionalität. Mein ganz persönliches Highlight, welches mein Nomadendasein seit der jetzigen Wohnung adelt, ist mein Tojo-Parallel-Bett. Ein total flexibles Bettsystem, das nur aus unbehandeltem Holz besteht, und ohne Nägel und Schrauben einfach durch ein System von Nuten und Zapfen stabil zusammengehalten wird. Die Auf- und Abbauzeit von Tojo beträgt gerade mal jeweils 10 Minuten.

Weniger, aber besser

Heute werden wir immer noch regelrecht von der Masse an Produkten erschlagen, und es wird immer schlimmer, hat man den Eindruck. Theoretisch stellt das kein Problem dar, wenn da nicht der Produktionsprozess selbst wäre, der unser Ökosystem belastet: Für die Gewinnung von Bauholz, Papier und Brennholz werden Wälder zerstört; Energieträger wie Öl, Gas und Kohle werden für die Fabrikation von Gegenständen und Nahrungsmitteln oder den Antrieb von Fahr- und Transportautomobilen verbraucht. Die potenziell in unserer Umwelt vorhandenen Ressourcen verschwenden wir, um sie in Dinge zu transformieren, die häufig nach kurzer Zeit ihren Nutzen verlieren.
Dass wir auch im Design nachhaltig Verantwortung für unsere Umwelt und unseren Planeten übernehmen können, hat bereits der deutsche Produktdesigner Dieter Rams erkannt. Er zählt zu den einflussreichsten Industriedesignern der Moderne und ist vor allem als Gestalter der bekannten Elektrogeräte der Marke BRAUN bekannt. Sein Credo „Weniger, aber besser“ fasst 10 zentrale Regeln zusammen: Gutes Design ist innovativ, macht ein Produkt brauchbar, ist ästhetisches Design, macht ein Produkt verständlich, ist ehrlich, unaufdringlich, langlebig, ist konsequent bis ins letzte Detail, ist umweltfreundlich und so wenig Design wie möglich. BRAUN war für viele Deutsche in der Nachkriegszeit erschwinglich. Die Firma schaff te es, mit der Produktion von zeitgemäßen Geräten, die zum aktuellen Möbeldesign der 1950er Jahre passten, eine Marktnische zu fül len und wurde für viele zum Statussymbol. Zu jener Zeit eröffnete in Ulm Deutschlands erste Hochschule für Gestaltung, dessen erster Direktor Max Bill vom Bauhaus geprägt war und den Ausdruck „guter Form“ im Zusammenhang mit Design zur Lösung all jener machte, die daran glaubten, dass man mit gutem, einfachen Design, die Welt ein Stückchen besser machen kann. Wir alle kennen im Zusammenhang mit Design auch den Leitsatz „form follows function“, der bereits Ende des 19. Jahrhunderts vom amerikanischen Architekten Louis Henry Sullivan aufgestellt wurde und heute immer noch gilt. In Deutschland waren die Designer und Architekten des Bauhauses die ersten, die nach dem Prinzip arbeiteten, dass die Gestaltung eines Gegenstandes oder Gebäudes, also die äußere Form, der Funktion oder dem Zweck folgen sollte.

Das Wohnzimmer des Durchschnittsdeutschen

Die meisten Deutschen verbinden Design oftmals mit einer formal-ästhetischen Wirkung. Was jeder einzelne darunter versteht, ist wiederum sehr subjektiv. Hierzu gibt es eine Menge empirischer Studien, die ermitteln, wie der Durchschnittsdeutsche sein Zuhause einrichtet, also was typisch deutsch ist. Die Hamburger Agentur Jung von Matt ließ bereits zu Beginn der 2000er die Wohnstube des „typisch Deutschen“ auf Basis erwähnter Studien nachbauen und in regelmäßigen Abständen aktualisieren.
Die obligatorische Unterhaltungselektronik ist heute nicht mehr unbedingt von BRAUN. Flatscreen-TV-Gerät, PC, Blueray-Disc-Player & Co. verkörpern aktuell – neben der Schrank- wand Optik Eichenfurnier mit der von der typisch deutschen Frau“ gelesenen Literatur wie „Shades of Gray“ und dem schwarzen De ckenstrahler in Stehlampenoptik – aber immer noch die Statussymbole im deutschen Durchschnittswohnzimmer. Vieles folgt zwar auch hier dem Gedanken „form follows funktion“, doch Ästhetik lässt sich hier nur schwer ausmachen. Eigentlicher Sinn und Zweck der deutschen Mittelmaßstube ist es, den Jung von Matt-Mitarbeitern jederzeit zu ermöglichen, sich in dem Durchschnittszimmer aufzuhalten und so ein Gefühl für diejenigen zu bekommen, für die die Werbekampagnen, die sie entwerfen, eigentlich gedacht sind. Häufig werden hier auch Meetings mit den Agentur- kunden abgehalten. Damit die Werbekampagne auch wirklich beim Endverbraucher bzw. Konsumenten ankommt, ist es wichtig, diesen zu verstehen und mit ihm auf Augenhöhe zu kommunizieren. Soviel zum Durchschnittsdeutschen. Andere Bürger wählen ihre Statussymbole nach anderen Kriterien aus. Ästhetik spielt hierbei eine übergeordnete Rolle, aber auch ein gewisses Markenbewusstsein. So darf bei dieser Klientel, meist Besserverdiener mit akademischen Hintergrund, ein Stuhl von Vitra nicht fehlen, über dem Esstisch schwebt die Occhio und die Schrankwand ist gerne mal ein Systemmöbel von USM, alles Dinge, die sich der durchschnitt- liche Deutsche meistens auch gar nicht leisten kann. Ach ja, und dann gibt es ja auch noch IKEA, wo man angeblich Design für alle findet.

Design für jedermann

Für den Architekten Van Bo Le-Mentzel bedeutet „Design für alle“ etwas ganz anderes. Seine Parole lautet „Konstruieren statt Konsumieren“, und er möchte damit Menschen, die zwar Sinn für Ästhetik und ein Stilbewusstsein, jedoch wenig Geld besitzen, dazu motivieren, sich ihre eigenen Möbel zu bauen. Bekannt wurde er mit seinen Entwürfen für die so genannten „Hartz IV-Möbel“. Die Konstruktionspläne versendet der Designer kostenlos, im Gegenzug möchte er einen Bericht über die Umsetzung des Möbels. Van Bo Le-Mentzel gehört einer neuen Ge neration von Designer an, die das Motto „form follows function“ längst überholt haben. Das Motto ist zwar immer noch gültig, aber es wird mittlerweile anders angewendet. Ihnen geht es nicht mehr nur darum, dass die Form eines Gebrauchsgegenstandes seiner Funktion folgt, sondern sie versuchen den Ansatz der Nachhaltigkeit, dem sich bereits Designer wie Dieter Rams verschrieben hatten, umzusetzen und darüber hinaus tatsächlich Design, das für alle erschwinglich ist, zu entwerfen. Nachhaltig in dem Sinne, dass sie versuchen den energetischen Produktionsaufwand so gering wie möglich zu halten, oder bereits vorhandene Ressourcen und Materialien zu recyceln, oder Dingen durch so genanntes Design Hacking eine neue Funktion zu geben und sie so auf kreative Art und Weise wiederverwertbar machen. Eine neue Definition von Statussymbol Das tolle am Hartz IV-Möbel ist, dass es tatsächlich funktioniert: Wenn man die vielen Berichte derer liest, die das Möbel gebaut haben ließt, stellt man fest, dass die Idee von allen Bevölkerungsschichten, Geschlechtern und Altern aufgenommen wird. Es ist tatsächlich ein Designmöbel für jedermann geworden. Gut durchdachtes Design ist somit wirklich für jeden erschwinglich geworden, und erfüllt darüber hinaus den Anspruch ökonomisch und nachhaltig zu sein. Auch das kann Status symbolisieren. Und trotzdem gibt es noch einen Aspekt, der stärker wirkt als Funktionalität oder Statuswert: die ganz persönliche und emotionale Bindung zu einem Ding. In meinem Fall ist das die erste Kasse, die meine Großeltern in ihrem Fotogeschäft von ihrem Vorgänger geerbt und in den ersten Jahren benutzt haben. Eine hölzerne Registrierkasse, die um die Jahrhun dertwende entstanden ist und mich sehr an meine heißgeliebten Großeltern erinnert. Zunächst diente sie meiner Mutter viele Jahre als Beistelltisch, seit ich ein Teenager bin, nutze ich sie als Nachttisch. In ihre Schubladenfächer passen mein Schmuck und eine Menge Kleinkrams. Jedesmal wenn ich die Schublade öffne, freue ich mich, denn es ertönt eine Klingel, die mechanisch im Inneren der Kasse angeschlagen wird.
Diese Registrierkasse meiner Großeltern erfüllt eigentlich alle oben aufgeführten Kriterien, mit denen Dieter Rams gutes Design defi niert hat. Gut, sie ist nicht mehr modern, aber sie ist der pure Ausdruck von nachhaltigem Design und ist somit schon wieder zeitgemäß. Sicherlich wird sie mich noch viele, viele Jahre begleiten und noch so einige Umzüge mitmachen. Angst vor der Ausmusterung muss sie garantiert nicht haben.

Wieviel Design braucht der Mensch?

Wieviele Dinge und wieviel Design braucht nun also der Mensch, um glücklich zu sein? Ich finde, das muss jeder für sich selbst entscheiden und definieren. Es sollte sich jedenfalls gut anfühlen. Und das tut es meistens noch mehr, wenn man kritisch bleibt, nachhaltig denkt und verant- wortungsbewußt handelt, auch beim Konsum von Design.

Katrin Willert
ist zur Zeit im Fachbereich Virtual Design Dozentin für Kunst- und Kulturgeschichte an der HS Kaiserslautern und leitet das UNCOVER Festivalbüro. Bis Ende 2013 war sie künstlerische Leiterin und Geschäftsführerin des Kunstvereins Reutlingen. Davor arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe. Sie studierte Europäisch Kunstgeschichte sowie Philosophie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.

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